Der extravagante Liebhaber

Pierre Corneille
Der extravagante Liebhaber
(La Place Royale)
Komödie in fünf Akten
Deutsch von Rainer Kohlmayer
2 D, 4 H, 1 Dek
Alidor und die schöne Angélique lieben sich, aber Alidor will sich durch einen Verrat von ihr lösen, um „frei“ zu werden. Als sie, tief gekränkt, sofort den ersten besten Anbeter (Doraste) heiraten will, statt, wie von Alidor eingefädelt, seinen Freund Cléandre zu nehmen, erobert Alidor sie zurück, um sie von Cléandre entführen zu lassen. Aber Cléandre erwischt in der Nacht die falsche Frau, nämlich Angéliques Freundin Phylis. Alidor möchte die tödlich gekränkte Angélique abermals – und diesmal für sich und für immer – zurückgewinnen, aber sie stößt ihn von sich und geht ins Kloster. Cléandre hat sich in die aus Versehen entführte Phylis verliebt. Alidor bleibt allein zurück und sieht im Verlust seiner großen Liebe den Gewinn der ursprünglich ersehnten Freiheit.

Das bisher noch nie übersetzte, autobiographisch motivierte Stück des 28-jährigen Pierre Corneille, das seit kurzem in Frankreich eine Neuentdeckung mit prominenten Inszenierungen erfährt, hat die Ehrlichkeit und Zerrissenheit eines Jugendstücks. In diesem Stück fehlt jede Autoritätsfigur; die sechs Jugendlichen sind unter sich und nehmen kein Blatt vor den Mund. Die Art, wie Phylis zu Beginn über ihr Verhältnis zu Männern spricht, klingt wie einer feministischen Talkshow entnommen.

Die erstaunlichste Figur ist der freiheitsversessene Alidor, der auf Don Juan, auf Baudelaire, auf Nietzsche, auf den Existenzialismus vorausweist. Ein junger Mann voll innerer Widersprüche, der bereit ist, seine Liebe der Freiheit – und dann wieder die Freiheit der Liebe zu opfern, und der am Schluss einen verzweifelt-zynischen Epilog spricht, der alle Lebenslügen radikal verschmäht. Kein Wunder, dass Corneille später den Text erheblich abmilderte und sich von dem Jugendwerk distanzierte, wenn auch aus „dramaturgischen“ Gründen.

Alidors Gegenfigur ist die schöne Angélique, die die individuelle Liebe mit radikalem Entweder-Oder-Dualismus vertritt. Aber Angéliques Idealismus ist vielschichtig. Vielleicht ist Alidors Freiheitsstreben doch auch eine verständliche Reaktion auf die absolute und besitzergreifende Liebe von Angélique?

Alle Beziehungen zwischen den sechs jungen Leuten oszillieren zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge, zwischen Freundschaft und Manipulation. Die Freundschaft zwischen der frivolen Phylis und der Moralistin Angélique ist gleichzeitig ein Konkurrenzkampf um die „richtige“ Art, als Frau zu leben. Ebenso komplex sind die Macht- und Freundschaftsverhältnisse zwischen Alidor und Cléandre, zwischen Phylis und ihrem Bruder Doraste.

Das Stück ist eine Komödie auf der Kippe zur Tragödie. Corneille desorientiert, nicht nur weil er die jugendlichen Lebensentwürfe unversöhnt nebeneinander stellt, sondern auch, weil zwischen Worten und Gefühlen der Hauptfiguren immer wieder schrille Dissonanzen spürbar sind. Das Stück kann tatsächlich als Tragödie oder als Komödie gespielt werden, je nach Besetzung und Gewichtung.

Die geschliffene Sprache, die psychologische Hintergründigkeit, das Nebeneinander von Charme, Melancholie, Witz und Rebellion bilden das Magma, aus dem später Molières Menschenfeind und Don Juan entstehen konnten. Hier ist die Lava noch flüssig.


Zurück zur Übersicht