Künstler, eine Treppe hinabgehend

Tom Stoppard
Künstler, eine Treppe hinabgehend
(Artist Descending a Staircase)
Stück in 11 Szenen
Deutsch von Frank Günther
1 D, 6 H, Verw - Dek
Ein Künstlerkrimi als Erkenntniskomödie; Fuge für 1 Schauspielerin, 6 Schauspieler und 1 Tonbandgerät.


Donner, Martello und Beauchamp sind drei betagte Künstler (gespielt von drei älteren Schauspielern) in einer gemeinsamen Boheme-Dachatelier-Wohnung.


Einer ist Maler, einer Bildhauer, einer fabriziert Tonbandcollagen. Man streitet um die Milchrechnung, die Badewannenbenutzung und die avantgardistische Kunst. Leider ist Donner bei Stückbeginn bereits tot – ein Künstler, eine Treppe hinabgefallen – und es fragt sich, welcher der beiden anderen ihn umgebracht hat. Zur Lösung des Rätsels führt uns das Stück – stufenweise – treppab hinab in die Vergangenheit: in der zweiten Szene lebt Donner wieder – sie spielt nämlich ein paar Stunden vor der ersten; die dritte eine Woche vor der zweiten, die vierte fünfzig Jahre vor der dritten (in der nunmehr drei junge Schauspieler die drei Künstler darstellen) etc., bis die sechste Szene im Jahre 1914 den Wendepunkt bringt, und das Stück – die "Treppe" hinaufsteigend – mit der elften Szene wieder in der Gegenwart – dem Treppensturz Donners – ankommt und das Tonbandgerät die Lösung des Mordfalls bringt.


Die raffiniert verschachtelte Stück-Reise in die Vergangenheit wird zunächst einmal zu einem bösartig-komischen Panoptikum der künstlerischen Stil-, Moden- und Trend-Schlachten, in denen Donner, Martello und Beauchamp seit ihren frühen surrealistisch-dadaistischen Anfängen mitgefochten haben. Die Moden werden gewechselt wie die Meinungen, im ewigen Bemühen, die Welt, wie sie ist, wahrhaftig darzustellen.


War gerade noch die "eßbare Kunst" – als einzige Legitimation künstlerischen Schaffens angesichts des Hungers in der Welt – in Form einer Venus-von-Milo-Replik aus Kandiszucker die ultima ratio, entschließt man sich im nächsten Moment, Schnitzel als Keramik zu modellieren; oder wird wieder klassisch und entsagt "den leichten Siegen auf der Spielwiese der Avantgarde".


Aber das Stück besteht nicht nur aus höchst amüsanten Geplänkeln und bissigen Bonmots über Avantgarde und Kunst; mit dem Auftreten von Sophie konturiert sich das Kernthema: Sophie ist blind und leidenschaftlich interessiert an Malerei. Noch kurz vor ihrer Erblindung sah sie auf einer Vernissage die drei Künstler – aber ohne zu wissen, zu welchem Gesicht welcher Name gehörte. In eines der Gesichter verliebte sie sich – aber welches nun war es?


Beauchamp wird der Liebhaber der blinden Sophie – aber war er wirklich der, in den die sehende Sophie sich verliebt hatte? Oder ist dies eine Illusion und Donner, der sich für sie aufopfert, der eigentlich Geliebte? Jedenfalls verläßt Beauchamp sie nach einiger Zeit, und die desillusionierte Sophie stürzt sich aus dem Fenster.


Illusion und Desillusion, Sehen und Blindsein, Erkenntnis und Irrtum sind die Themen, die Stoppards Kammerkomödie auf mehreren kunstvoll miteinander verwobenen Ebenen behandelt. Ein intellektuelles Vexierspiel, so vielfältig gebrochen wie Marcel Duchamps Bild "Le Nu descendant un escalier", das für Stoppards Stück Pate stand; eine raffinierte kleine Komödie über die Rätsel der Erkenntnis ähnlich jenem Testbild, das zwei weiße Gesichter auf schwarzem Grund zeigt und gleichzeitig eine schwarze Vase auf weißem – je nach Blickwinkel des Betrachters. Und nicht zufällig endet das Stück mit einem Zitat aus König Lear.


 



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