Teils trüb, teils klar
Tennessee WilliamsTeils trüb, teils klar
(Something Cloudy, Something Clear)
Stück in 2 Teilen
Deutsch von Helmar Harald Fischer
3 D, 5 H, 1 Dek
Auf einer Holzkiste, vor sich die Schreibmaschine, sitzt in einer sturmzerzausten Strandhütte zwischen den Dünen von Cape Cod ein junger Schriftsteller, August, der an der Revision seines ersten für den Broadway projektierten Stücks arbeitet. So saß Tennessee Williams im Sommer 1940 am Strand von Provincetown und überarbeitete sein Stück >Battle of Angels< für das Try-out in Boston. Und in diesen Sommer fiel seine erste große Liebe zu einem Mann: Kip Kiernan, einem kanadischen Tänzer russisch-jüdischer Abstammung. Kip tritt ebenso auf in >Something Cloudy, Something Clear< wie das Produzentenpaar von >Battle of Angels< und dessen Hauptdarstellerin. >Teils trüb, teils klar< ist Augusts Blick, dessen linkes Auge aufgrund eines grauen Stars trübe wirkt. Der Titel ist jedoch auch Metapher für die besondere Form des Stücks, in dem eine durch Jahrzehnte getrübte Erinnerung durch den klaren Blick wissender Rückschau neu belichtet wird. Denn der junge Stückeschreiber August alias Tennessee Williams ist zugleich der 40 Jahre ältere Dichter, der im Bewußtsein seines Lebenswerks zurückblickt auf die Anfänge, in denen sich ein Lebensmuster ausprägte. Der Zurückblickende fühlt sein jüngeres Selbst wehmütig wissend in sich lebendig. Wie bei einer mehrfach belichteten Fotografie haben sich die Phasen des Lebens und Schreibens poetisch übereinander geschoben.
TEILS TRÜB, TEILS KLAR - Erster Teil
AUGUST Sie wollen ganz bestimmt nichts trinken?
CLARE Ich darf nicht. Ich hab Diabetes.
AUGUST Ich dachte, nur ältere Leute hätten Diabetes.
CLARE Leider gibt es so etwas wie angeborene Diabetes, und das hab ich.
AUGUST Hab ich nie von gehört, Sie kommen mir ganz gesund vor.
CLARE Hhmm. – Regnet es hier nicht rein, ohne Fensterscheiben und ohne Tür?
AUGUST Klar doch. Aber ich hab diese Persenning, die zieh ich übers Bett, und meine Reiseschreibmaschine und die Silber Victrola schieb ich da draußen unter die Plattform.
CLARE Sie sind ein Stückeschreiber. Das haben Sie mir gestern abend erzählt.
AUGUST Ich schreibe Stücke. Erzählungen. Gedichte. Jetzt bin ich gerade an einem Stück dran, ja. Fast hätte ich darin etwas geändert, ohne davon überzeugt zu sein, als Sie durchs Fenster riefen wie mein – wie ein – Gewissen?
CLARE Sehen Sie nie die Leute an, mit denen Sie reden?
AUGUST Nur, wenn ich betrunken bin.
CLARE Warum?
AUGUST Warum?
CLARE Mh-hmm.
AUGUST Weil ich sonst ein bißchen glasäugig werde und – ein bißchen unaufrichtig, glaube ich.
CLARE Wenn Sie unaufrichtig wären, würden Sie das nicht so aufrichtig zugeben.
AUGUST (sieht hinaus) Schöner Tänzer, Ihr Bruder.
CLARE Ihm sind Sie auf dem Pier gestern abend auch begegnet.
AUGUST Weiß ich, aber – gestern abend war ich blind.
CLARE (stichelnd) Nicht so blind, um ihn nicht anzustarren wie der Fuchs die Gans.
AUGUST (sieht sie lächelnd an) Nein. Nein, dazu nicht zu blind. Aber er schien blind für meine Aufmerksamkeit. Deshalb lenkte ich sie auf ein weit weniger anziehendes Objekt, einen betrunkenen Handelsmatrosen an der Bar: Ein Hund, im Vergleich, eine Promenadenmischung. Naja, wie auch immer. Bedürftige können eben nicht besonders – wählerisch sein, nicht wahr, und – so schön es hier draußen ist, nachts ist es hier draußen eben auch sehr einsam.
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