Der Lügner

Pierre Corneille
Der Lügner
(Le Menteur)
Komödie in 5 Akten
Deutsch von Rainer Kohlmayer
4 D, 6 H, 1 Dek
Le Menteur (1643/44 von Corneille aus dem Spanischen übertragen und bearbeitet) wird in Frankreich oft gespielt. In Deutschland ist diese frivole Komödie, die als die erste moderne Komödie Frankreichs gilt und von Molière sehr geschätzt wurde, so gut wie unbekannt, wofür man kulturelle Gründe vermuten könnte. Eine Lügner- (und Lügnerinnen-)Komödie, bei der im Schlusswort sogar das Publikum zum Lügen ermuntert wird, scheint nicht so recht ins Land des kategorischen Imperativs und zur deutschen Tradition des Lustspiels, getreu dem Lessing-Motto „Man kann auch lachend sehr ernsthaft sein“, zu passen.

Aber nein: Corneille passt durchaus, auch heute noch, nicht nur, weil der kategorische Imperativ Kants längst zur politisch korrekten Heuchelei geschrumpft ist. Der Hauptgrund dafür, dass dieses Stück – mit über 900 Vorstellungen eines der meistgespielten Stücke der Comédie-Française überhaupt, die es 2004/05 wieder einmal mit großem Erfolg aufführte – auf den deutschen Bühnen nicht vorkam, war das Fehlen einer spielbaren Übersetzung. Die in den 1920er Jahren entstandene Übersetzung von Hans Schiebelhuth war schon zum Zeitpunkt ihrer Entstehung sprachlich hoffnungslos veraltet, erst recht zur Zeit ihrer Publikation (1954).

Wenn man sich die Mühe macht, zeilen- und satzgenau zu übersetzen und dabei den französischen Text konsequent in lebendiges Gegenwartsdeutsch umzuwandeln, versteht man, weshalb das Stück an den französischen Theatern so beliebt ist. Es ist ein ausgesprochen rhetorisch-kulinarischer Text, pointen- und tiradenreich, voll hinreißender Szenen und spannend bis zum Schluss. Und durch die Vater-Sohn-Beziehung auch psychologisch interessant. Es ist eine Art Bunbury des 17. Jahrhunderts.

Corneilles Lügner Dorante ist ein sympathischer Narziss, der sich ständig neu erfindet, der – wie besoffen von Redegewandtheit und Phantasie, und immer auf der Flucht nach vorn – seine eigene Wirklichkeit produziert, sich im Netz seiner Lügen verstrickt und durch noch kühnere Lügen wieder daraus befreit. Ein rhetorischer Don Juan, der in sich selbst und in das Prinzip Frau verliebt ist, ein großes Kind, dem der Dichter Corneille das böse Erwachen erspart. Die Redekunst triumphiert über die Moral, die Phantasie besiegt die Realität.

Die Leidtragenden sind vermutlich die Frauen, die sich in das fragile Happy End fügen müssen. Aber Corneilles Frauenfiguren sind auch nicht auf den Mund gefallen, aus ihrer Raffinesse und großstädtischen Eloquenz spricht ein emanzipiertes, gescheites Selbstbewusstsein, wie es aus dem deutschen Klassikerstädtchen Weimar kaum zu vernehmen war. Corneilles Figuren sind himmelweit entfernt von Idealismus und opferbereiter Innerlichkeit. Die schöne sprachliche Oberfläche ist die Substanz, ähnlich wie in Mozarts Così fan tutte.

In der Komödie darf die Anarchie über die Ordnung siegen und daran erinnern, dass ein Leben ohne Kunst und Phantasie eine Erde ohne Himmel wäre. Und so staunt das Publikum mit offenem Mund, wenn sich der Eskapist Dorante am Schluss noch einmal mit einer halsbrecherischen Kehrtwendung aus dem Regen in die Traufe lügt.

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