Auf der Flucht

Tennessee Williams
Auf der Flucht
(Fugitive Kind)
Stück in 8 Szenen
Deutsch von Thomas Huber
4 D, 12 H, 1 Dek
Eine billige Absteige mit dem vielsagenden Namen „Okay Beds“ zu Weihnachten in einer amerikanischen Großstadt im Mittleren Westen. Die Gäste in Mister Gwendlebaums Etablissement sind Gestrandete, schillernde Persönlichkeiten – mehr oder weniger gezeichnet von einem Leben am Rande der Gesellschaft. Der Ton ist rau zwischen den Männern in dieser Herberge, aber auch von Empathie bestimmt. Da ist der Musiker Texas, ein Lebenskünstler, der sich mit seinen Gitarre-Auftritten in Kneipen und Wirtshäusern durchschlägt. Carl, schwer gezeichnet von Tuberkulose, und sein schwedischer Kumpel Olsen sind auf dem Weg nach New Orleans, müssen jedoch im „Okay Beds“ einen Zwischenstopp einlegen. Chuck, der dort als eine Art Faktotum für Ordnung sorgt, wartet sehnsüchtig auf Schnee. Ein anderer Bewohner, Jabe Stallcup, pflegt eine verdächtige Nähe zum ortsansässigen Polizisten O’Connor. Und dann gibt es noch den schizophrenen „Feuerteufel“ Abel White, der gerne mit seinen Streichhölzern das Haar hübscher Mädchen entflammt.

Nur einer will nicht so recht in dieses Ambiente passen: Terry Meighan, ein vom FBI gesuchter Gentleman-Gangster, der sich auffällig unauffällig verhält. Das bemerkt Glory, die dem armenischen Genozid entkommene, hübsche Adoptivtochter Gwendlebaums. Spätestens, als die Mitglieder eines Wohltätigkeitsvereins publicityträchtig milde Gaben an die verarmten Männer verteilen wollen, droht Terrys Tarnung aufzufliegen. Glory stellt sich schützend vor ihn, und schon da knistert es gewaltig zwischen den beiden.

Es ist der unbändige Freiheitswille, der die Kraft und Vitalität dieses ungewöhnlichen Liebespaars ausmacht. Terry, nach einem Bankraub mit „heißer Beute“ auf der Flucht vor den
Häschern des FBI, träumt von einem Neuanfang. Glory ist fasziniert von der anarchischen Ausstrahlung dieses Outlaw und will ihr altes Leben hinter sich lassen. Ihr Bruder Leo, Terrys Alter Ego, hat schon das Weite gesucht, nachdem er seiner antikapitalistischen Schriften wegen von der Uni geflogen ist. Flüchtende wie sie sind die Figuren alle, getrieben von ihren Sehnsüchten und dem Drang, sich aus alten Zwängen zu befreien. Leo, Sohn eines Einwanderers, dem amerikanischen Traum zum Opfer gefallen, wählt die Freiheit des Andersdenkenden. Der Verbrecher Terry Meighan hingegen wählt die Freiheit des Todes.

„Fugitive Kind“, „Auf der Flucht“, Tennessee Williams‘ zweites abendfüllendes Stück, das er 1937 im Alter von 26 Jahren schrieb, fängt die flirrende Atmosphäre des Amerika der Dreißiger Jahre ein. Das frühe Stück wirkt wie ein Schlüssel zu Tennessee Williams‘ späterem Œuvre. Seine Figuren sind auf der Flucht vor der Mittelmäßigkeit eines gewöhnlichen Lebens: Der Student Leo, der fahrende Sänger Texas, der Outlaw Terry – sie alle verkörpern Facetten des Lebensthemas von Tennessee Williams, Flucht und Freiheit, und finden ihre Fortsetzung in Figuren wie Val in „Orpheus steigt herab“ oder Ben in „Treppe nach oben“.

Zwischen billiger Absteige und winterlichem Weiß entwirft Tennessee Williams in „Auf der Flucht“ ein beeindruckendes Gesellschaftspanorama, verbindet genretypische Elemente des Gangsterfilms mit einer anrührenden Liebesgeschichte und Gesellschaftskritik. Er erweist sich bereits in jungen Jahren als dezidiert politischer Autor.



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