Labet mich mit Äpfeln

Nell Leyshon
Labet mich mit Äpfeln
(Comfort Me With Apples)
Stück in 2 Akten
Deutsch von Bernd Samland
3 D, 2 H, 2 Dek
Unter diesem biblisch nicht nur anmutenden, sondern wörtlich (wenn man Luther mit "Labet" und der Einheitsübersetzung mit "Erquickt" glauben will) dem Hohenlied entlehnten Titel verbirgt und entfaltet sich ein Stück, das zwar – des Obstanbaus wegen – an den "Kirschgarten" gemahnt, doch mit diesem nur wenig gemein hat. Denn bei Tschechow, wie wir seit David Mamet wissen, ist den meisten Beteiligten das Schicksal des Kirschgartens völlig egal. Bei Leyshon jedoch wird und wurde das Leben aller direkt und konkret vom Land und den darauf angebauten Äpfeln beeinflußt, ja geprägt: eine Verwurzelung der besonderen Art. Und somit ist der drohende Verlust des Apfelgartens ein Drama auf Leben und Tod.

"Das Stück spielt auf einer verfallenen Farm in einem Dorf am Rande der Somerset Levels." Und es beginnt an einem herbstlichen Morgen in der Küche, die ein Bild der Verwüstung bietet, Folge einer nächtlichen Auseinandersetzung und Hinweis auf kommende Verwerfungen. In der Nacht ist Arthur, der alte Hof- und Hausherr, an Herzschlag gestorben, und danach ist es zum Streit zwischen seiner Frau Irene (70), jetzt plötzlich Witwe, und ihrem Sohn Roy (über 40) gekommen, der daraufhin das Haus verlassen hat, morgens aber zurückkehrt. Zeuge war Irenes Bruder Len, ein alter Kindskopf von mehr als 60 Jahren, der mit unverblümter Naivität die drängenden Fragen über die Zukunft und die schmerzenden Wahrheiten aus Vergangenheit und Gegenwart ausspricht. Er ahnt, was Irene nicht wahrhaben will; es droht die Vertreibung aus dem Paradies, das, wie sich im Verlauf des Stückes zeigt, schon lange keines mehr war. Zwar tragen die Bäume noch reichlich Früchte, die auch geerntet werden, doch sie werden schon seit Jahren nicht mehr zu Cider verarbeitet. Die Farm ist hochverschuldet, nur der Verkauf des Landes als Bauland könnte die Rettung sein. "Der Duft von Mostäpfeln erfüllt die Luft: Äpfel, Eiche, Most und Moder und Zeit." 

Als Roys Zwillingsschwester Brenda im Haus auftaucht, das sie vor Jahren verlassen hat, weil sie in der bedrückenden Atmosphäre nicht mehr leben konnte, kommt es zur Konfrontation mit ihrer Mutter, von der sie immer abgelehnt, ja verleugnet wurde. Irene klammert sich an die Illusion einer blühenden Zukunft mit Roy. Doch der sieht seine Chance gekommen, jetzt endlich mit seiner Jugendliebe Linda, die von Irene einst vom Hof vertrieben wurde, obwohl sie seit Kindesbeinen fast zur Familie gehörte, einen Neuanfang zu wagen. Es kommt aber nicht dazu.

Zwar taucht Linda am Tag der Beerdigung Arthurs im Haus auf, das sie seit Jahren nicht mehr betreten hat. Zwar kommt es zur Beschwörung alter, glücklicher Zeiten auf und unter Apfelbäumen, es werden die alten Verse aus der Somerset-Apfel-Folklore zitiert und gesungen, die alten Apfelmythen erzählt. Fast litaneiartig werden die alten, vom Markt verdrängten Apfelsorten genannt. Und sakramentartig werden Arthurs alte Werkzeuge, die Okuliermesser, ausgebreitet. Es werden sogar Äpfel geerntet und eingesackt. Doch für Linda, die von Irene absichtlich nicht wahrgenommen wird, ist das alles vorbei. Sie hat einen anderen Mann und ist schwanger, das erzählt sie ihrer Freundin Brenda, nicht aber Roy. Roys Kind hatte sie vor Jahren nicht zur Welt gebracht. Und Linda geht.

Gegen Abend, nach der Beerdigung, dämmert es auch Irene, daß etwas zu Ende gegangen ist. Im Apfelgarten gräbt sie mit Len ein Loch und begräbt Arthurs Messer. Sie geht nicht mehr ins Haus, wo Brenda und Linda den Leichenschmaus aufgefahren haben. Stattdessen entkleidet sie in einem betörenden Schlußbild Len, er legt sich in die Erde, und Irene bedeckt ihn mit Laub. Dann entledigt sie sich ihres Mantels, ihres Kleides, ihrer Stiefel und legt sich neben ihn. Und bedeckt sich mit Laub. "Es fallen die letzten Blätter, und es schwindet das letzte Licht." Ende des Stücks, Abschied von einer ganzen Welt.


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