Sippschaft
Nina RaineSippschaft
(Tribes)
Stück in 9 Szenen
Deutsch von Thomas Huber
3 D, 3 H, 1 Dek
"Sippschaft" ist eine Familiengeschichte im intellektuellen Milieu der Großstadt.
"Political Correctness" bedeutet hier Langeweile. Wer mit seinen Pointen möglichst viele Löcher in die Haut des anderen brennt, hat gewonnen. Wer einfach "nett" ist, hat verloren. "Nett sein" heißt konventionell sein, ist Durchschnitt, ist Kleinbürgertum. Aus der Enge des Kleinbürgertums ist Christopher, der Titan der Familie, geflohen in die Weite des Denkens. Er ist Poet, Autor, unerbittlicher Analyst der Schwächen seiner Kinder. Sie müssen lange durch seinen Schatten laufen, ehe sie das Licht ihrer eigenen Bestimmung erblicken.
Daniel laboriert untätig an einer Doktorarbeit über Sprache, die alle nur mit stummer Ablehnung quittieren. Er nimmt Medikamente gegen "Stimmen" in seinem Kopf, die ihm zuflüstern, er sei ein Niemand.
Ruth ist Opernsängerin, oder will es sein, aber die Rolle der "Aida" hat nun die verhasste Konkurrentin bekommen.
Beth, die Mutter, schreibt einen Kriminalroman über eine gescheiterte Ehe. Christopher hat die ersten Kapitel gelesen, was zu einer geschrieenen Auseinandersetzung über konventionelle Metaphern führt, in der die Pointen nur so spritzen.
Sie alle aber haben in ihrer Mitte eine gemeinsame Aufgabe, die sie ihrem Empfinden nach brillant gelöst haben: Billy, der Jüngste. Taub. Von Geburt an.
Christopher hat es zu einem Glaubensbekenntnis der Familie gemacht, dass Billy nicht als "Behinderter", als Bewohner des Ghettos der Gehörlosen aufwachsen soll. Nein. Billy sollte ganz "normal" in ihrer Mitte leben.
Auch wenn dies bedeutete, dass er an den sprachlichen Scharmützeln seiner Familie nicht teilnehmen konnte. Er sollte seine Identität nicht auf eine Schwäche gründen. Da Billy schweigt, ist er ein guter Zuhörer, ein jeder sucht seine Nähe. Billy verschafft allen Ruhe vor den Zynismen der Familienhierarchie.
Eines Tages erscheint Sylvia auf dem Tableau. Sie ist Billys neue Freundin, der doch "noch nie eine hatte...". Sie ist dabei, ihr Gehör zu verlieren. Sie verlässt die Welt der Hörenden und ist bestens gerüstet für die andere Seite. Sie beherrscht perfekt die Gebärdensprache, ein Umstand, der Christopher nur Spott entlockt. Alle in der Familie haben Angst, Billy an die "andere Seite" zu verlieren. Ihre Angst bemänteln sie mit Sorge.
Billy emanzipiert sich zunehmend aus der Umklammerung durch die Familie. Sylvia besorgt ihm einen Job als Lippenleser für die Staatsanwaltschaft. Er entziffert Überwachungsvideos und ist so gut darin, dass sogar ein Portrait im "Guardian" über ihn erscheint. So weit hat es keines seiner Geschwister je gebracht. Billy fasst einen Entschluss. Er wird die Familie verlassen...
Unter der Folie einer Sittenkomödie verbirgt sich ein exemplarisches "Coming of Age" Drama. Die Behinderung des Protagonisten wird zu einer Metapher für die Suche nach Identität in der Unüberschaubarkeit unserer Zeit.
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