Das Maß der Verlässlichkeit
Benedikt Bernhard HaubrichDas Maß der Verlässlichkeit
27 Szenen mit einem Epilog
3 D, 3 H, Verw - Dek
Die erfolgreiche Schlafforscherin Kattrin Lentz geht mit Leidenschaft in ihrer Arbeit auf. Sie gilt als die Frau, die den Schlaf entziffert hat: nachts arbeitet sie im Schlaflabor, tagsüber schläft sie. Mit ihren beiden Töchtern Hannah und Sarah sowie ihrem ehemaligen Patienten und neuen Lebensgefährten Edgar Johann lebt sie in einer entlegenen Großstadt am See. Ihre Familie sieht sie nur in den frühen Morgenstunden am Frühstückstisch.
Hannah und Sarah leiden beide am unbegründeten Verschwinden des leiblichen Vaters, der sich nur unregelmäßig per Brief bei seiner Tochter Hannah meldet. Während Hannah sich ins Schweigen zurückzieht, fühlt sich Sarah berufen, die Abwesenheit des Vaters zu kompensieren, seine Rolle als Familienoberhaupt zu übernehmen und sich bewußt aggressiv vom „Stiefvater” zu distanzieren.
Um die Lebenssituation zu meistern, reagiert Kattrin Lentz mit einem Übermass an Kontrolle in allen Bereichen. Ihr Unverständnis für das beharrliche Schweigen ihrer Tochter Hannah verunsichert sie zutiefst. Sie entgleitet ihr. Leidet Hannah an ihrer Sprachlosigkeit? Oder verweigert und entzieht sie sich bewusst?
Die gefährdete, aber noch funktionierende, Welt gerät aus dem Gleichgewicht, als auf der Station des Krankenhauses ein neuer Patient auftaucht, der seit längerer Zeit nicht mehr schläft und dessen Schlafverhalten für die renommierte Schlafexpertin ein großes Rätsel darstellt. Es gelingt ihr nicht, trotz aller diagnostischen Möglichkeiten, den Grund für die Schlaflosigkeit des Patienten zu finden. Auch neue Methodiken der organischen und psychischen Analyseverfahren, die sie anhand des Falls entwickelt, bleiben ergebnislos.
Zu Hause wächst die Sorge um ihre Tochter Hannah. Nicht nur, dass sie schweigt, mittlerweile kümmert sich der verschrobene und rätselhafte Nachbarjunge Robert Hertz um Hannah. Er behauptet, sie hören und verstehen zu können. Aus Furcht und Unverständnis verbietet die Mutter Hannah die Treffen am See, während Sarah den Kontakt der beiden befürwortet. Sarah selbst kommt kaum noch zur Ruhe. Sie fühlt sich beobachtet, hört nachts ein nicht zu lokalisierendes Surren, misstraut Edgar, der regelmäßig spät abends das Haus verlässt, und schläft kaum noch. Die Spannungen drohen das mühsam errichtete (Krisen-) Familienkonstrukt zu sprengen. Das gegenseitige Misstrauen führt zu einer durch Paranoia geprägten Atmosphäre des Beobachtens und Sich-Beobachtet-Fühlens. Im Strudel der Ereignisse sucht jedes Familienmitglied nach einem Ausweg, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Nachdem Hannah eines Tages spurlos verschwindet, eskaliert die Situation endgültig.
"Das Maß der Verlässlichkeit" untersucht anhand einer Patchwork-Familie, was passiert, wenn in einer Gesellschaft die Grenze zwischen Arbeitswelt und Privatleben immer unschärfer wird. Benedikt Bernhard Haubrich stellt das Phänomen Schlaf bzw. Schlaflosigkeit ins Zentrum seines Stückes und schafft damit ein gleichermaßen poetisch-abstraktes, wie auch analytisch-konkretes Motiv, anhand dessen er ein kritisches Gesellschaftsbild entwirft.
„ [...] Haubrich beweist mit seinem Stück nicht nur eine gute Beobachtungsgabe aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern zeigt seinem Publikum auch unmissverständlich, wohin ständige Überforderung und Reizüberflutung führen. Wenn Tochter Hannah sich am Ende vom Leben verabschiedet, bekommt nicht nur ihr Herz einen Riss. Hier geht es nicht um die Befindlichkeitsstörungen Einzelner, sondern um die Diagnose einer ganzen Gesellschaft. Eine Tragödie griechischen Ausmaßes.“ (Kulturmagazin vom 24.02.2011)
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