Camera Clara
oder
Wie man leben muss
Anna Poloni
Camera Clara
oder
Wie man leben muss
Stück in 3 Akten
2 D, 3 H, 1 Dek
Marek und Karen leben in der Wohnung ihrer Kindheit. Für Karen ist sie der Stützpunkt ihrer exzessiven Ausflüge in die Welt, für Marek Bollwerk und Kloster.
Der permanente Kontakt zur Welt ist über das große offene Fenster im Hauptraum der Wohnung lebendig. Das Gasthaus vis à vis ist der Treffpunkt der Geschäftsesser, der tüchtigen Verdiener, viele davon im gleichen Großunternehmen wie Karen beschäftigt. Karen ist der Star dieses kleinen Kreises. Das ist ihr und Marek bewusst. Karen schenkt Marek seine erste Kamera, eine Leica. Diese Verlängerung seines Blicks liegt ihm und öffnet ihm Wege. Aus dem Fenster fotografiert er Karen unter den Menschen, er sammelt, Momentaufnahmen, dokumentiert das Verhalten der „Gasthausmenschen“, wie er sie nennt, einer fidelen und glatten Gesellschaft, die so manches Dunkle unter die weißen Tischdecken kehrt. Marek wird zum Künstler wider Willen, zum Seismographen einer scheinbar verlässlichen, de facto aber brüchigen und abgründigen Welt. Karen organisiert hinter dem Rücken des Bruders eine Ausstellung seiner Fotografien. Marek wird in kürzester Zeit ein „Name“, und ist zutiefst unglücklich darüber. Er fühlt sich, seine Intimsphäre und seinen Blick auf die Welt verraten. Als er begreift, dass er den Zeiger nicht mehr zurückdrehen kann, benützt er seinen Künstlerstatus, hält den Menschen, die dem einst unsicheren Kind Marek plötzlich hinterherlaufen, brutal den Spiegel vor, indem er ihre Leere, ihre tiefe Verunsicherung, ihre Banalität und Oberflächlichkeit abbildet.
Aber die Durchschauten und Abgebildeten schlagen zurück, und die Geschwister verändern sich durch den Gang der Ereignisse auf radikale und irreparable Weise. Was passiert in einer Gesellschaft, die alles über die erfolgreiche Abwicklung von Kauf und Verkauf definiert und wertet, mit den „Anderen“, mit den Unberechenbaren, den Anstrengenden, den Kranken, den Sensiblen, den Künstlern, all jenen, die keine zählbaren Profite für ebendiese Gesellschaft erwirtschaften? Wie reagieren die programmierten Erfolgsmenschen auf Karen und Marek,
was können die Geschwister wiederum den scheinbaren „Machern“ dieser Welt geben, zeigen oder auch nehmen?
Anna Poloni
Zurück zur Übersicht