Melitte oder Die gefälschten Briefe
Pierre CorneilleMelitte oder Die gefälschten Briefe
(Mélite ou Les fausses lettres)
Komödie in 5 Akten
Deutsch von Rainer Kohlmayer
3 D, 5 H, Verw - Dek
Aus Rache und Eifersucht auf seinen Freund Tircis, der ihm die schöne Melitte ausspannte, fälscht Éraste verführerische Liebesbriefe Melittes an Philander, den Verlobten von Tircis’ Schwester. Als der den giftigen Köder schluckt, bringt Éraste gleich vier Liebende auseinander und stürzt Tircis und Melitte in tiefstes Unglück. Als die beiden tatsächlich tot zu sein scheinen, wird Éraste wahnsinnig vor Reue. Die fälschlich Totgeglaubten begnadigen den reuigen Verbrecher, der am Schluss sogar durch die Verbindung mit Tircis’ Schwester eine neue Chance bekommt, während der wankelmütige Philander seine Glaubwürdigkeit verloren hat.
In seinen ersten Komödien verarbeitet Corneille das Trauma seiner Jugend: dass ihn die schöne Catherine Hue aus Rouen zugunsten eines reicheren Bewerbers ablehnte. In keinem Stück offenbart der 23-jährige Dichter deutlicher die narzisstische Kränkung und pathologische Verzweiflung, die er zu überwinden hatte. Aber die Liebe zu der „belle inhumaine“ hatte ihn auch zum Dichter gemacht, wie er später bekannte. Sein Bruder (der Dramatiker Thomas Corneille) behauptete sogar, das ganze Stück sei um das Sonett herum gebaut, das der Poet Tircis für Melitte schreibt und das offensichtlich autobiographischen Ursprungs ist.
Aber auch ohne dieses Hintergrundwissen ist das erste Stück des Theatergenies Corneille heute noch faszinierend, lässt er doch die jungen Leute ihren brodelnden Liebeshunger, ihre Vorurteile, Hoffnungen, Selbstwidersprüche und Irrtümer unzensiert aussprechen, ähnlich wie in der späteren Komödie La place royale(Der extravagante Liebhaber) . Die Stimme der Gesellschaft kommt nur indirekt in der Figur der Amme zu Wort, die kühl die Spielregeln der Liebe erläutert, die den wahnsinnigen Éraste mit geradezu psychoanalytischem Durchblick in die Wirklichkeit zurückholt und in ihrem kurzen Schlusswort eine souveräne Mischung aus Altersmelancholie und Humor vorführt, wie man das nur von Shakespeares Figuren kennt.
Erst seit der Pléiade-Ausgabe von 1980 liegen die frühen Komödien Corneilles nebeneinander in der Form vor, in der sie zuerst veröffentlicht wurden. Denn in den späteren Drucken hatte der zum staatstragenden Dichter avancierte Corneille die offene Sprache der jungen Leute erheblich zensiert und vor allem die deutliche Erotik beseitigt. In den ersten Stücken kümmert sich Corneille auch nicht um die drei Einheiten, die später zur Fußfessel der Fantasie wurden. Kein Wunder, dass in Frankreich ab etwa 1980 eine Renaissance des jungen Corneille einsetzte (z. B. inszenierte Lassalle Mélite am TNS in Strasbourg). Aber erst wenn man die jungen Leute Gegenwartssprache sprechen lässt, erkennt man die Modernität Corneilles. Hier kann man als Übersetzer Entdeckungs- und Pionierarbeit leisten, da die frühen Stücke bisher noch nie ins Deutsche übersetzt wurden. Die Übersetzung von Mélite ist um ein Drittel gerafft, behält aber das Versmaß des Originals bei.
Für das deutsche Theater ist der junge Corneille ohnehin erst noch zu entdecken; seine frühen Stücke sind faszinierende Dokumente eines frühen "Sturm und Drang" der Pariser Großstadtjugend. „Literature is news that stays news“, schrieb Ezra Pound sehr treffend. Corneilles Stücke sind thematisch jung geblieben – und durch die Übersetzung in deutsche Gegenwartssprache auch sprachlich wieder jung geworden.
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