Eine kleine Blutrache

Pavel Kohout
Eine kleine Blutrache
Ein Nachspiel in zwei Teilen
3 D, 4 H, 1 Dek
Ein einsames Dorf in den Bergen der Volksrepublik Sipperatien am Rande Europas. Der Friedensforscher Friedhelm Dill und seine Gattin sind spätabends mit ihrem Wagen, einem Warnschild folgend, vom Weg abgekommen. Nun sitzen sie im heruntergekommenen ehemalig „Königlichen Jagdschloss“, in das sie ein stotternder Dorftrottel geleitet hat, und stellen plötzlich fest, dass sie eingeschlossen wurden. Sie sind nicht die einzigen Gefangenen: Auch Horst Schramm, General a. D., und seine „Mausi vom Dienst“, Trude, folgten dem Schild. Der Aktivist Danny Heilig und seine Partnerin Anke wurden vom örtlichen Ammam eingeladen.

Die sechs Deutschen sind die ersten Touristen in dem Zwergstaat, der sich nach dem Krieg der Welt verschloss und erst jetzt, Ende der 80er Jahre, wieder diplomatische Beziehungen zu Europa knüpft. Von den einzigen sechs Bewohnern des leeren Dorfes, den Brüdern Zoglu, erfahren die sechs Deutschen zu ihrem Entsetzen vom Grund ihrer Gefangenschaft: An ihnen soll, nach alter sipperatistischer Sitte, Blutrache vollzogen werden, um das Massaker deutscher Wehrmachtsoldaten an der Sippe der Zoglus vor vierzig Jahren abzugelten. Man überlässt ihnen die Wahl, wer von ihnen die Schuld begleichen soll.

Die Geiseln versuchen, ihren überaus eloquenten und gebildeten Verhandlungspartner Sahmed zur Vernunft zu bewegen, aber kein Argument, weder humanistische Gründe, noch die Unübertragbarkeit von Schuld, noch die Isolation von Europa durch einen Touristenmord, kann Sahmed überzeugen. Schließlich sei die Blutrache ein Akt der Gerechtigkeit, nicht des Hasses, und jeder von ihnen sei derselben moralischen Geste fähig, sich für die anderen zu opfern, ebenso wie ein Dorf voller Bergbauern.

Als Sahmed in Einzelgesprächen abfragt, an wem nun die Blutrache vollstreckt werden soll, offenbaren die gutsituierten Friedensaktivisten und Demokraten, dass auch sie den Wert eines anderen Lebens abzuwägen wissen, wenn es um das eigene Überleben geht. Bis Anke, entsetzt darüber, wie die anderen ihre Ideale und Werte verraten, sich selbst vorschlägt.

„Ein Nachspiel“ nennt Pavel Kohout dieses kluge Gedankenspiel über die Unmöglichkeit von Vergebung und die Absurdität von Vergeltung. Es ist ein Nachspiel auf die moralischen Vergehen des NS-Regimes und seine zynische Tötungslogik, zugleich ein Nachspiel auf die moralischen Vergehen des darauffolgenden Kommunistischen Regimes.

Die sechs wohlständigen Deutschen, die glauben, die Barbarei des Zweiten Weltkrieges mit humanistischer Bildung überwunden zu haben, sind auch die Tschechen, die glaubten, der Barbarei des Zweiten Weltkrieges durch den stalinistischen Kommunismus entkommen zu sein. Sie alle lassen die Masken fallen und werden von Kohout in ihrer Angst, ihrer Heuchelei und ihrer Mittäterschaft entlarvt. Am Ende bleiben beunruhigende Fragen und die bittere Bestätigung, dass sogar der Humanismus dazu missbraucht werden kann, das eigene Leben und Gewissen freizukaufen.


Zurück zur Übersicht