Große Schmährede an der Stadtmauer
Tankred DorstGroße Schmährede an der Stadtmauer
Einakter
1 D, 4 H, 1 Dek
Das Stück greift die Grundsituation eines chinesischen Schattenspiels auf: Am Fuße der großen Mauer steht eine junge Frau und fordert energisch vom Kaiser ihren Mann, den Soldaten Hsüeh Li, zurück, der hinter der Mauer zur Verteidigung der Stadt kaserniert ist. Die Offiziere des Kaisers bieten ihr ein Spiel an: Wenn sie ihren Mann in der Masse der uniformierten Soldaten erkennt und dann beweisen kann, dass es tatsächlich ihr Mann ist, darf sie mit ihm nach Hause gehen. Kann sie die Offiziere nicht überzeugen, soll der Soldat getötet und sie über den Fluss gejagt werden. Die Frau ist sich ihrer Sache sicher, doch als der von ihr ausgewählte Soldat von der Mauer steigt, beginnt eine Prüfung auf Leben und Tod, denn der vermeintliche Ehemann ist ihr völlig unbekannt. Gemeinsam mit dem Fremden muss sie nun zeigen, dass sie zueinander gehören, wie sie sich kennen gelernt und wie sie miteinander gelebt haben. Während die Frau ihre Rolle überzeugend spielt und bereit ist, durch einen puren Akt der Imagination die anonyme, bloß funktionierende Automatenwelt zu überwinden, kann der Mann in seinem Spiel den Schein nicht aufrechterhalten. Er besteht die Prüfung nicht und verschwindet wieder hinter der Mauer in der Phalanx der anonymen Soldaten.
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